Sind 1450 Euro Miete für eine 70qm-Wohnung realistisch als „bezahlbarer Wohnraum“?
(Die Fachfragen an Verwaltung und Politik finden Sie unten!)
Über das Projekt Nordweststadt II ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Insbesondere die Bürgerinitiative, die sich gegen das Bauvorhaben richtet, hat sich umfangreich mit allen möglichen ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten des Projekts beschäftigt, kritische Fragen gestellt und auf viele ihrer Fragen keine Antworten erhalten. Dabei hätte es sich gelohnt, doch mal genauer hinzuschauen.
In Viernheim gibt es insbesondere einen Bedarf an bezahlbarem Wohnraum. Dieser ist in der Nordweststadt II gemäß des Entwurfs des Bebauungsplanes entlang der Autobahn und als „Geschosswohnungsbau“ vorgesehen. So kann der bezahlbare Wohnraum gleich den Lärm von den teureren Häusern fernhalten.
Schauen wir einmal kritisch, ob das gelingen kann und spielen den Kauf eines Grundstücks durch, um dort auf vier Geschossen „bezahlbaren Wohnraum“ anzubieten. Wie „bezahlbar“ wird die Miete hier wohl sein? Wir haben das als Bürgernetzwerk einmal mit Bauexperten aus der Stadt durchgespielt.
Gehen wir beispielhaft von einer Grundstücksgröße von 1000qm aus, die wir mit einem Haus mit der Grundfläche von 600qm bebauen. Muss ja noch Platz sein für Grün, Erschließungswege etc. (Für die Fachleute: das entspricht einer Grundflächenzahl (GRZ) von 0,6 wie im Bebauungsplan vorgesehen.) Gleichzeitig bauen wir vier Stockwerke und erreichen so eine gesamte Wohnfläche von 2400 qm.
Zunächst kaufen wir natürlich das Grundstück. Dabei gehen wir in Anlehnung an die Grundstückspreise im Bannholzgraben II von700 Euro pro qm aus. Das sind dann 700.000 Euro zuzüglich Erwerbsnebenkosten als Preis für unser Grundstück. Diese Kosten verteilen wir gleichmäßig auf die Wohnfläche. Das Grundstück macht damit die Wohnfläche um 300 Euro pro Quadratmeter teurer.
Der derzeitige Entwurf des Bebauungsplan sieht Tiefgaragen vor, die den Bau teurer machen. So rechnen wir also weiter mit Baukosten in Höhe von 4000 Euro pro Quadratmeter. Das entspricht einer guten, aber noch „günstigen“ Bauweise inklusive Tiefgarage und ist sicherlich vorsichtig gerechnet. Damit liegen wir mit den Grundstückskosten bei 4300 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche (Gesamtpreis 10,3 Millionen Euro).
Wenn wir nun pauschal realistische 3 Prozent Zinsen und 2 Prozent Tilgung kalkulieren, entspricht das schon einer notwendigen Miete von rund 18 Euro pro Quadratmeter. Dann müsste der Vermieter noch Geld für zukünftige Instandhaltungen zurücklegen, hat Verwaltungskosten und sein „Mietausfallwagnis“ – gehen wir also realistischer Weise von einem Mietpreis von rund 20 Euro pro Quadratmeter aus. Kalt wohlgemerkt. Heizung und andere Nebenkosten kommen für den Mieter und die Mieterin also noch oben drauf.
Was heißt das nun praktisch? Gehen wir von einer durchschnittlichen Wohnungsgröße von 70 Quadratmetern aus. Das bedeutet 1400 Euro Miete pro Monat für die Wohnung, plus 50 Euro für den Tiefgaragenplatz – also 1450 Euro Miete pro Monat. Plus Nebenkosten.
Ist das der „bezahlbare Wohnraum“, der doch immer als Argument für das Neubaugebiet herhalten muss? Wer von denen, die bezahlbaren Wohnraum suchen, ist bereit für eine 70 Quadratmeter große Wohnung eine Kaltmiete von 1450 Euro aufzuwenden? Und das für eine Wohnung direkt an der Autobahn und mit wegen des Lärms nicht zu öffnenden Fenstern?
Spielen wir den Gedanken weiter und verkaufen die Wohnungen. Zum Quadratmeterpreis von oben kommt dann noch die Marge des Bauträgers hinzu. Der will ja auch was verdienen. Marktüblich sind 15 Prozent des Kaufpreises. Damit kommen zu den 4300 Euro Baukosten pro Quadratmeter nochmal rund 645 Euro dazu. Damit kostet eine 70qm große Wohnung pro Quadratmeter rund 5000 Euro und die gesamte Wohnung 350.000 Euro. Plus Parkplatz in der Tiefgarage (rund 20.000 Euro) plus Erwerbsnebenkosten sind wir dann bei 400.000 Euro für die Wohnung.
Wer ist wohl bereit bzw. in der Lage für eine 70 Quadratmeter große Wohnung über lange Zeit 1670 Euro monatlich für Zinsen und Tilgung an die Bank zu bezahlen? Und das wohlgemerkt in einer lärmintensiven Wohnlage? Im Bannholzgraben II, also in deutlich ruhigerer und besserer Wohnlage, gelingt das offenkundig nicht erfolgreich.
So kommt man dann unweigerlich auf die Frage: Was ist, wenn diese Wohnungen und Grundstücke nicht verkauft werden können?
Daraus ergeben sich jede Menge Fragen an die Stadtverwaltung und die Politik. Zum Beispiel an den studierten Architekten und Ersten Stadtrat, wie er die Vorgaben des Bebauungsplans für den Geschosswohnungsbau kostenmäßig beurteilt und wie er die Investitionsbereitschaft möglicher Bauherren für das Neubaugebiet einschätzt. Oder an den Bürgermeister, wie er die Auswirkungen der Baukosten auf Mietpreise für bezahlbarem Wohnraum einschätzt. Sicherlich haben die Fachabteilungen Musterkalkulationen erstellt und vorgelegt. Oder an das Stadtparlament, wo ja auch einige fachkundige Menschen auf das Projekt und die Entwicklungen schauen.
Wir haben einen umfangreicheren (Fach-)Fragekatalog zusammengestellt und an Bürgermeister, Ersten Stadtrat sowie die im Stadtparlament vertretenen Parteien versendet. Es ist schön, wenn hier tragfähige Antworten gefunden würden. Für einen Leserbrief ist es sicherlich zu lang und auch nicht für alle interessant. Allerdings können interessierte Bürgerinnen und Bürger die Fragen natürlich auf unserer Webseite einsehen.
Wir sind gespannt, wie das Projekt Nordweststadt II weitergeht und ausgeht. Das Projekt zeigt deutlich, dass es besser gewesen wäre, sich intensiver mit der Kritik der Gegner des Baugebietes auseinanderzusetzen. Hinzu kommen zahlreiche weitere Experten in der Stadt, die man hätte einbeziehen können, um das vor vielen Jahrzehnten politisch schon beschlossene Projekt einer Überprüfung in der Gegenwart zu unterziehen.
(Anmerkung: Das ist noch keine Positionierung des Bürgernetzwerks sondern wir stellen zunächst einmal kritische Fragen. Es gibt gue Argumente gegen das Baugebiet sowie gute Argumente dafür! Eine eigene Positionierung ist zum aktuellen Zeitpunkt noch offen!
(Anmerkung 2: Der Hintergrund für diesen Leserbrief wurde mit Experten aus der Bürgerschaft im Gespräch entwickelt. Wir wollen zu verschiedenen Themen immer wieder die Bürgerschaft mit einbinden. Einmal um Bürgerinnen und Bürger mitreden zu lassen und dann auch, um das jeweilige Knowhow zu nutzen. Weder die Stadtverwaltung noch die Politik können die ganze notwendige Expertise aufbringen, die für die Lösung von vielen Aufgaben notwenig wären. Wir setzen uns dafür ein, die vorhandene Expertise in der Bevölkerung der Stadt besser zu nutzen!)
(Fach-)Fragenkatalog
Den folgenden Katalog von (Fach-)Fragen haben wir mit der Veröffentlichung des öffentlichen Leserbriefs an die im Stadtparlament vertretenen Parteien und Gruppierungen versendet, mit der Bitte um Antworten.
Und los geht’s:
Die Übermittlung von Zuteilungsvorschlägen an die Grundstückseigentümer ist nun schon einige Zeit vorbei. Wie ist die tatsächliche Grundstücksnachfrage nach Flächen für den Geschosswohnungsbau im Neubaugebiet Nordweststadt II?
Wie hoch ist die Bereitschaft der aktuellen Grundstückseigentümer, die in diesen Bereichen angebotenen Baugrundstücke nach Baulandumlage auch anzunehmen (insbesondere da eine eigene Projektentwicklung dort wahrscheinlich für die Meisten nicht möglich ist)?
Wie hoch ist die Bereitschaft der aktuellen Grundstückseigentümer, mit den Erschließungskosten für die in diesen Bereichen angebotenen Baugrundstücke in Vorleistung zu gehen und damit ein langfristiges oder gar dauerhaftes Investitionsrisiko auf sich zu nehmen?
Wie viele Grundstücke wurden der Stadt Viernheim zum Zwischenerwerb angedient?
Wie kann die Stadt Viernheim diese Grundstückserwerbe und die Erschließungskosten finanzieren?
Im Hinblick auf die obigen Kalkulationen für Mietwohnungsbau oder Eigentumswohnungen: Gibt es überhaupt Investoren und Interessenten, die diese Risiken realistisch übernehmen wollen?
Wie geht die Stadt Viernheim im Falle des Grundstückserwerbs mit dem erworbenen Vermarktungsrisiko um?
In den ursprünglichen Entscheidungsvorlagen bzw. der Machbarkeitsstudie ist von sehr umfangreichem sozialem Wohnungsbau in der Nordweststadt II die Rede. Dies war sicherlich eine wichtige Entscheidungsgrundlage für den Bürgermeister, die SPD und die Grünen. In den letzten Vorlagen und Berichten ist von der Sozialquote und sozialem Wohnungsbau nichts mehr zu lesen. Ist das für einige Politiker sicher entscheidende Argument zur Schaffung von vielen bezahlbaren Sozialwohnungen weiterhin gültig und wenn ja, in welchem Umfang?
Wie wird die Verbindlichkeit für die Eigentümer zur Umsetzung des sozialen Wohnungsbaus seitens der Stadt im Verfahren sichergestellt?
Im Hinblick auf die aktuellen, sehr bedenklichen Berichte zur finanziellen Lage und Entwicklung der städtischen Finanzen: Verfügt die Stadt Viernheim über die finanziellen Mittel, um die zu schaffenden Sozialwohnungen komplementär laut Förderrichtlinien des Landes Hessens zu fördern?
Wenn die Förderung alternativ durch verbilligte Grundstücksverkäufe realisiert werden soll – fehlen die Minderkaufpreise dann nicht für die weiteren Verpflichtungen der Stadt im Rahmen des Baugebiets?
Die in der Machbarkeitsststudie enthaltenen Kalkulationsmodelle sind sehr veraltet und nicht mehr anwendbar. Die Ergebnisse der damaligen Kalkulationen deuteten schon auf eine grenzwertige Ausgangslage hin. Diese dürfte sich verschärft haben. Gibt es seitens der Stadt Viernheim eine überarbeitete und realistische Neukalkulation zum Baugebiet?
Welche Schlüsse ziehen Verwaltung und Politik aus den seinerzeit schon schwierigen Rahmenbedingungen und den zwischenzeitlich eingetretenen weiteren, erschwerenden Preisentwicklungen?
Wie wird mit dem augenscheinlichen Risikoumgegangen, dass nach der Durchführung der Erschließung und damit verbundenen hohen Grundstücksverbräuchen und Investitionen langfristig umfangreiche Baulücken verbleiben, da Grundstückseigentümer aufgrund der vorstehenden Kalkulationsgrundlagen ggf. nicht projektieren können?
Wer übernimmt die wirtschaftliche und politische Verantwortung auf Seiern der Stadt Viernheim bei Eintritt der zu erwartenden Fehlentwicklungen?
Warum hat sich der Bürgermeister als Stadtoberhaupt und Hauptverantwortlicher für den städtischen Haushalt bislang nicht öffentlich zum Neubaugebiet Nordweststadt II geäußert und ist bei keiner Veranstaltung selbst aufgetreten? Bei den hohen finanziellen Auswirkungen der Maßnahmen auf die Stadt Viernheim und im Hinblick auf ein signifikantes Wachstum der Stadt (2000 neue Einwohner und damit 5-6 Prozent Ausweitung der Viernheimer Bevölkerung) kann nicht alleine auf die Zuständigkeit des Ersten Stadtrats abgestellt werden.
Im Hinblick auf die vom BUND festgestellten Verstöße gegen Ökologie und Umweltauflagen sowie der Umgang mit einem aktiven Träger öffentlicher Belange: Wer übernimmt hierfür die sachliche und politische Verantwortung für die Vorgehensweise?
Welche Schlüsse für die Zukunft ziehen Verwaltung und Politik aus den festgestellten Verstößen gegen Recht und Ordnung von seiten der Verwaltung?
Werden die Handlungen im Sinne von Compliance, also der Überwachung regelkonformen Verhaltens der Stadtverwaltung, ihrer Organisationsmitglieder und Mitarbeiter im Hinblick auf Gesetze, Richtlinien und freiwilligen Verhaltensnormen, aufgearbeitet?