Kommunale Finanzen und das große „Blame Game“

Hintergrund dieses Beitrags ist ein offener Brief verschiedener Bürgermeister an ihre Parteikollegen in Bund und Landtag, in dem sie die finanzielle Ausstattung der Städte bemängeln. In Viernheim ist dem bspw. eine massive Erhöhung der Grundsteuer vorangegangen und man versuchte sich damit zu entschuldigen, dass die anderen daran Schuld sind und selbstverständlich auf keinen Fall die unterschreibenden Bürgermeister.

von Michael Kosbau

Das kürzlich stattgefundene Pressegespräch des Bürgernetzwerks Viernheim verdeutlichte erneut den Klärungsbedarf beim Phänomen des „Blame Game“ – wissenschaftlich bekannt, öffentlich oft übersehen. Vereinzelte Reaktionen auf meine Aussage bezüglich der kommunalen Finanzen zeigen dies deutlich. Keineswegs – das sei vorangestellt – ist dies nur ein kommunalpolitisches Problem.

Was war passiert: Ich erlaubte mir, darauf hinzuweisen, dass das Medium „öffentlicher Brief“ an die eigenen Parteikollegen* wohl kaum der effektivste Weg sein kann, Probleme der kommunalen Finanzen tatsächlich zu lösen. Ich bezog mich dabei beispielhaft auf den Offenen Brief der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister des Kreises Bergstraße. Wäre es nicht sinnvoll, mit den Parteikollegen* zu sprechen und notfalls persönliche Konsequenzen daraus zu ziehen, wenn auch Sprechen über einen sehr sehr langen Zeitraum nichts hilft? Oder kann mir jemand erklären, was sich trotz aller Appelle, Briefe und des Verlagerns der Schuld auf andere politische Ebenen in den vergangenen Jahrzehnten in der kommunalen Finanzrealität geändert hat? Offenbar nichts, sonst bräuchte es den Brief nicht.

Das sogenannte „Blame Game“ (dt. etwa „Schuldspiel“), ein altbekannter Mechanismus, greift regelmäßig, auch wenn es um kommunale Finanzen geht. In der Politikwissenschaft beschreibt dieser Begriff eine strategische Schuldzuschreibung zwischen politischen Ebenen oder Akteuren, bei der es weniger um Problemlösung als um den Schutz des eigenen Ansehens geht. Wer scheitert oder Angst um sein öffentliches Ansehen hat, will nicht verantwortlich erscheinen und sucht deshalb nach einem Sündenbock.

Dabei entsteht der Effekt, dass am Ende keiner mehr so richtig weiß, wer nun eigentlich „schuld“ ist, da diese Schuldzuweisung situativ variiert werden kann. Ist man selbst (oder die eigene Partei) an einer Regierung/Koalition beteiligt? Stellt man vor Ort den Bürgermeister oder 1. Stadtrat? Wer ist Teil der Bundesregierung? Aber auch Fragen wie: Welche Wahl steht in nächster Zeit an? An solchen und weiteren Fragen richtet sich das „Blame Game“ aus: Eine durch den Föderalismus strukturell begünstigte Verschleierungstaktik der politischen Entscheider.

Niemand muss das Phänomen des „Blame Game“ kennen, um es zu erkennen. Es würde schon reichen, sich die öffentliche Erzählung einmal anzuschauen und dann kritisch zu hinterfragen. Und die geht ja seit Ewigkeiten schon so: Das Land gibt den Kommunen zu wenig Geld, weil es selbst – aufgrund von Regeln aus dem Bund – zu wenig hat. Die Landkreise wiederum müssen den Städten über die Kreisumlage Mittel entziehen, weil sie ihre gesetzlichen Aufgaben irgendwie erfüllen müssen. Im Notfall ist die Schuldenbremse in Bund oder Land (wer hat die nochmal eingeführt?!) an all dem schuld. Doch anstatt sie abzuschaffen oder zu modifizieren, fungiert sie wiederholt als willkommene Ausrede, weshalb man den Missstand halt verwalten muss.

Und dann steht man als Kommunalpolitiker einer großen Partei, der in seiner Stadt etwas erreichen möchte, da, zeigt nach oben und sagt: „Die da oben nehmen uns das Geld weg.“ Und das stimmt sogar. Und wenn dann genau die gleichen Parteien auf Landes- oder Bundesebene wieder gemeinsam regieren wollen und sich wieder nichts daran ändern soll, sind es nicht selten die gleichen Menschen, die sich dann
besonders staatstragend gerieren und das nicht etwa ablehnen, sondern – wenn auch manchmal mit ein bisschen Bauchschmerzen – mittragen. Oft geht es dann um „Stabilität“ und „staatspolitische Verantwortung“ und andere Phrasen, die gerne verwendet werden, wenn inhaltliche Argumente fehlen.

Die Ressourcen ihrer Parteien, die ganz zentral daran beteiligt sind, dass die Kommunen überhaupt in dieser Lage sind, nutzen die Akteure natürlich auch weiter. Und wenn dann Bundestags- oder Landtagswahl ist, unterstützen sie auch genau jene, die ihnen nach eigenem Bekunden das Geld vorenthalten. Unterdessen ist es ein offenes Geheimnis, dass landespolitische Akteure durchaus ein Interesse an kommunalen Finanzengpässen haben. Statt diese zu lindern, werden riesige Fördertöpfe aufgesetzt. Dann kann man sich öffentlichkeitswirksam mit breitem Grinsen beim Überreichen eines Förderbescheids ablichten lassen, statt den Kommunalpolitikern die Entscheidung darüber zu überlassen, was mit den Mitteln vor Ort geschehen soll.

Kurz gesagt: Diejenigen, die gescheiterte „kommunale Selbstverwaltung“ beklagen, stützen jene, die sie verhindern und schieben sich je nach Lage die Schuld gegenseitig zu. Das ist kein Verdacht oder eine Vermutung, sondern gelebte Praxis und muss den politischen Akteuren bewusst sein. Natürlich – das sollte nicht unerwähnt bleiben – hat es die untere Ebene (Städte/Gemeinden) am schwersten, weil sie im Grunde nur reagieren kann. Kein ehrenamtlicher Stadtverordneter ist heute zu beneiden, wenn er seine Hand für einen kommunalen Haushalt heben soll.

Eines der frappierendsten Praxis-Beispiele in Sachen „Blame Game“ lieferte 2021 die damals zurückgetretene Grüne Ministerin Anne Spiegel. Wie aus SMS-Protokollen hervorging, ging es ihr im Zusammenhang mit der Flut im Ahrtal vor allem darum, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Einen Artikel dazu können Sie finden, wenn Sie nach „Flutkatastrophe im Ahrtal – Grünen- Ministerin Spiegel war um ihr Image besorgt“ suchen. Gerne wäre ich noch ausführlicher als im Format des Leserbriefs möglich auf die Gesamtthematik eingegangen.

Halten wir fest: Ja, die Kommunen sind strukturell unterfinanziert. Die Schuld für Grundsteuererhöhung und finanzielle Probleme im letzten Jahr vor der nächsten Kommunalwahl strategisch auf die eigenen Parteifreunde zu verlagern, löst real aber kein einziges Problem und ob das aus genannten Gründen glaubwürdig ist, möge jeder selbst entscheiden. Mit Sicherheit scheitern edle Motive und ehrliches Engagement für die Kommune oft auch an den eingefahrenen Strukturen der politischen Landschaft. Ein weiteres Argument, sie zu verändern.


* Wie bereits in meinem Leserbrief Ende März erwähnt, werden die allermeisten Bürgermeister des Kreises Bergstraße von CDU und SPD getragen oder sind Parteimitglieder. An diese richtet sich diese konkrete Kritik am „Format“ ihrer Beschwerde.

WELT-Artikel zu Anne Spiegel

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